Newsletter Juli 2017
Als ich geboren wurde, spielte mein Bruder gerade im Sandkasten. Später hat er mir oft erzählt, wie er gerufen wurde und mit seinen sechs Jahren nicht verstand, warum er deshalb mit dem Spielen aufhören sollte. Aus seiner Sicht ein schlechtes Timing! Wie würde Ihre Geschichte beginnen?
Wenn Sie schon einmal bei mir eine biografische Aufstellung mit Symbolen gemacht haben, dann sehen Sie Ihre Geschichte vielleicht gerade vor sich liegen. Auf der einen Seite die offene Muschel als Eintritt ins Leben: Fühle ich mich willkommen? Liegt eine Perle darin? Auf der anderen Seite ein gefalteter Stern als Leitstern: Wonach richte ich mein Leben aus? Gibt es ein Motiv, das mich leitet? Dazwischen der Fluss des Lebens und die Frage nach dem eigenen Weg: Wo liegen Steine, was sind meine Geschenke...
Beim Verstehen unserer eigenen Geschichte, sind wir auf unsere Erinnerungen angewiesen. Sie machen gewissermaßen unsere Persönlichkeit aus. Dabei ist unser Gedächtnis höchst anfällig für Fehler, denn wir können unsere Erinnerungen auch im Nachhinein noch manipulieren und verändern. Sogar andere Menschen haben darauf Zugriff. Wenn Ihnen jemand eine Geschichte oft genug glaubwürdig erzählt, dann kommt es Ihnen irgendwann so vor, als seien Sie dabei gewesen. Wenn wir uns mehrfach etwas intensiv vorstellen, dann kann es dazu kommen, dass wir meinen, dass wir diese Vorstellung wirklich erlebt haben. Erinnern ist also ein sozialer Prozess, der sich fließend vollzieht und den Veränderungen anpasst - eine wichtige Voraussetzung für die Methode des biografischen Überschreibens.
Stellen Sie sich vor, Sie waren Zeit Ihres Lebens fest davon überzeugt, Sie seien in Ihrer Familie nicht wichtig gewesen. Und nun erzählen Sie mir anhand Ihrer Erinnerungen, woran Sie das fest machen. Im Laufe des Gesprächs nehme ich eine andere Sichtweise ein und innerhalb weniger Sequenzen hinterfragen Sie selbst Ihre bisherige Überzeugung. Es reicht völlig aus, diese Kraft ins Wanken zu bringen, um Ihnen neue Erkenntnissen zu ermöglichen. Wird diese Erfahrung nun emotional stark verknüpft und verankert, integriert sie sich in Ihr Gedächtnis. Die Vorzeichen sind an dieser Stelle nun verändert.
Es kann also sehr befreiend sein, den Gedanken zuzulassen, dass unser Gedächtnis unzuverlässig ist, und deshalb unsere Gegenwart und Zukunft nicht zwangsläufig bestimmt. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Wahl zu entscheiden, was aus einer Situation wir behalten und welche Bedeutung wir dem geben wollen. Es ist ein Filter, durch den wir die Vergangenheit betrachten. Heißt der Filter: "Ich bin nicht wichtig" - wie sieht dann unser Leben aus? Deshalb: Wir dürfen unseren eigenen Weg gehen und jederzeit neue Vorzeichen setzen!
Je älter wir werden, desto öfter passiert es, dass wir Erinnerungen aus unserem Gedächtnis verlieren. Ein Mittel dies zu verhindern ist, dass wir gezielt über unser Leben reden. Erstellen Sie sich eine Liste und teilen Sie Ihr Leben in verschiedene Rubriken ein: Kindheit, Grundschule, weiterführende Schule, Ausbildung, Arbeitsleben, Familienfeste, Urlaube, Reisen - was immer Ihnen wichtig erscheint. Nun unterteilen Sie diese Rubriken noch einmal in einzelne wichtige Ereignisse und erstellen dazu eine Liste. Wenn Sie dies nun mit Ihrem Partner, der Familie oder Freunden machen, dann hat jeder für sich eine sehr individuelle Liste von Ereignissen, die sein Leben ausmachen. Der Fokus liegt also auf den starken Erinnerungen, die Sie pflegen wollen. Ein Spiel in gemeinsamer Runde könnte nun heißen: "Das erste Mal". Jeder erzählt eine Geschichte aus seinem Leben, die er damit verbindet. Oder Sie wählen ein Jahr: "Wo war ich 1998?" Kleine Ausschmückungen sind natürlich erlaubt, wir wissen ja inzwischen, dass unser Gedächtnis flexibel ist. Sie können diese Übung auch für sich alleine machen, indem Sie ein Journal anlegen, Überschriften erfinden und kleine Geschichten dazu schreiben. Eine kurze Geschichte aus meinem Leben erzähle ich Ihnen hier auf meinem NotizBlog: Da ist die Liebe drin
In dem gleichnamigen Buch von Lisa Genova, das 2015 erfolgreich verfilmt wurde, erleben wir die ergreifende Geschichte einer Frau in den besten Jahren, die ihr eigenes und wohl vertrautes Leben schwinden sieht. Es geht um eine frühe Form der Alzheimer Erkrankung und zeigt uns, wie sehr wir uns über unsere Erinnerungen definieren und wie wichtig dabei das Heute ist: "Wenn mein Gestern verschwindet und mein Morgen unsicher ist, wofür lebe ich dann noch? Ich lebe im Augenblick. Ich werde das Heute vergessen aber das bedeutet nicht, dass das Heute nicht wichtig war." Buchtipp Still Alice: Mein Leben ohne Gestern
Auf der einen Seite wollen wir nicht in der Vergangenheit leben. Sie ist vorbei und bringt uns schnell in ein Gefühl des Mangels und des Verlustes. Auf der anderen Seite sind wir auch die Summe unserer Erfahrungen und damit auf wichtige Erinnerungen angewiesen. Hier liegt ein Schatz an Dankbarkeit, Liebe und Erkenntnis verborgen. Wie gehen wir damit achtsam um? Dietrich Bonhoeffer drückt dies in seinem Gedicht "Ein kostbares Geschenk" folgendermaßen aus: "Man muss sich hüten, in den Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen Stunden und es sonst nur wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich gewiss ist, besitzt; dann geht eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen aus."
Vielleicht geht es nicht um das Happy End, vielleicht geht es um die Geschichte deines Lebens.
Mein Leben: Mirko war 42 Jahre alt und ein großartiger Mann. Alle konnten ihn gut leiden. Streit mit Mirko war nahezu unmöglich. Seine Frau war total stolz auf ihn. Denn als Ortsbürgermeister war er überaus angesehen. Die Gemeinde kam immer wieder mit neuen Anregungen zu ihm. Und er tat alles dafür, dass die Bürger glücklich waren. weiter lesen
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Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis - wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Vera Birkenbihl: Kopfspiele - Methoden und Tipps zur Verbesserung der Erinnerungsfähigkeit.
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