Das Experiment


Sie fühlte sich grauenhaft. So müsste sich ein Boxer nach einem langen schweren Kampf fühlen. Es hatte keinen Sinn mehr gemacht. Sie hatten sich nur noch gestritten, sich gegenseitig Vorwürfe gemacht. Er hatte seine Koffer gepackt und war ausgezogen. Der Kampf schien zu Ende. Sie war zwar erleichtert. Aber nun stand sie wieder vor dem Nichts. Alle ihre Pläne und Ziele verraucht. Wie sollte es bloß weitergehen?

Sie fing gedankenverloren an, alte Fotos anzuschauen. Dabei kam ihr ein Brief in die Hände, der ungeöffnet war. Die eigene Adresse in der eigenen Handschrift geschrieben. Ein Brief an Sie selbst. Sie erinnerte sich an das Experiment einer Klassenlehrerin in der Schule. Sie sollten ihre Träume aufschreiben und was sie sich vom Leben erhoffen. Sie holte das Blatt aus dem Umschlag heraus, faltete es auseinander. Und begann zu lesen:

"Was will ich eigentlich?"

 

Ich will leben, auch wenn es mal weh tut. Ich will alles, was ich erlebe, auskosten. Die Freude und das Glück. Und den Schmerz und die Traurigkeit. Und ich will fühlen und spüren.Und wieder ruhig werden, wenn alles im Chaos versinkt. Ich will immer wieder den Mut haben, neu anzufangen. Ich will nach dem Leben suchen. Auch, wenn ich das Gefühl habe, es ist irre weit entfernt. Ich will leben, auch wenn es weh tut.

Sie legte das Blatt auf den Tisch, strich es mit den Händen glatt. Und fühlte sich ein klein wenig besser. Ein kurzer Brief an sie selbst. Lange her, aber immer noch gültig: Ich will leben, auch wenn es mal weh tut. Auch jetzt wieder.

 

Quelle: Zeit zu Leben

Marion Lampert-Gruber

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